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Schon konnte Marie im blauen Dunst die Türme und zinnenbewehrten Giebel des Städtchens erkennen.
Margot Thun-Rauch

Margot Thun Rauch wurde 1958 in Bozen geboren, wo sie bis zur Matura die Schule
besuchte. Nach dem Studium der Germanistik und Geschichte an der Leopold Franzens
Universität in Innsbruck arbeitete sie als Vertragsassistentin am Institut für Germanistik.
Es folgte ein Postgraduate-Lehrgang zur Kuratorin im Museums- und Ausstellungswesen am
Institut für Kulturwissenschaft in Wien. Anschließend war sie zwanzig Jahre lang als Kuratorin
im Kunsthistorischen Museum Schloss Ambras in Innsbruck tätig. In dieser Funktion kuratierte
sie Ausstellungen und verfasste Katalogtexte sowie wissenschaftliche Beiträge. Im Februar
2023 erscheint im Laurin Verlag ihr erster Roman, „Kassiopeias Stern“.
Margot Thun Rauch hat drei erwachsene Kinder und lebt in Siebeneich bei Bozen und in
Innsbruck.


+ Proa de letura

Er war plötzlich einfach da. Geronimo Scotto war mal bei den Malern anzutreffen, mal bei den Tänzern, mal bei den Ballspielern oder anderen Italienern im Schloss. Sein Wams war aus weichem Tuch, seine Schuhe aus glänzendem Leder und seine Hände waren die Hände eines Mannes, der nie gearbeitet hatte. Dazu hatte er einen Diener bei sich, der nicht müde wurde zu erzählen, dass sein Herr der Spross eines uralten, bis zu den Römern zurückreichenden Grafengeschlechts aus Piacenza sei. 

Bereits drei Jahre zuvor hatte Scotto versucht, mit dem Fürsten Bekanntschaft zu machen. Damals war ihm aber nur geglückt, ein Handastrolab um 100 Gulden zu verkaufen.

Seine fürstlich Durchlaucht könne ihn im Moment unmöglich persönlich empfangen, meinte sein Sekretarius. Und einige Tage später meinte er dasselbe und weitere Tage später nochmals dasselbe.
Es war das denkwürdige Jahr 1572. Die Missernten der letzten Sommer führten zu Hungersnöten in einem Winter, der so kalt wie lang war. Die Pest war wieder zurückgekehrt und hatte bei der geschwächten Bevölkerung leichtes Spiel. Und nun bebte auch noch die Erde. Dies war früher schon vorgekommen, die Alten erinnerten sich an ein kurzes Beben vor vielen Jahren. Diesmal aber war es heftiger. Und es kam immer wieder.
Die Stadtbewohner schliefen trotz grimmiger Kälte auf den zugefrorenen Feldern, während der Hofstaat in eilig aufgestellten Zelten übernachtete. An den Gebäuden der Stadt war bereits beträchtlicher Schaden entstanden, haushohe Risse spalteten sie, und viele Kamine waren heruntergefallen. Aus Angst, die Hofburg würde einstürzen, trugen die Steinmetze Reliefs und kleinere Stücke in den Hofgarten und verwahrten sie in einem Holzhäuschen. Und im Schloss mussten die Knechte das Wasser in Eimern vom Brunnen anschleppen, weil nach einem Beben die Wasserleitung versiegt war.

Manche sprachen vom Weltuntergang, andere sagten: Genau vierzig Tage werden die Beben dauern, so hat es Graf Scotto prophezeit. Und wirklich: vierzig Tage nachdem die Erde sich zum ersten Mal aufgebäumt hatte, blieb auf einmal alles wieder ruhig. Da wollte der Fürst wissen, wer dieser Scotto war, der solch kluge Prophezeiungen machte.